aus dem Kriminalroman Tod am Lachsbach - Ein Flensburg-Krimi von Heinz-Werner Jezewski

Titelbild

Der Tag war gut gewesen, bis zu dem Moment um kurz vor halb zehn, als das Handy klingelte und die Sache mit der Lei­che ihren Anfang nahm.

Robo, im Alltagsleben Robert Bohlke, Ermittler beim Kom­missariat für Tötungsdelikte der Kripo Flensburg und gleich­zeitig seit vielen Jahren mein bester Freund, fuhr rechts ran und nahm das Gespräch an.

»Na, da werde ich wohl vor den Kollegen da sein, alles klar.«

Er wendete ungelenk, fädelte den Wagen zwischen dem Stadtbus der Linie 7 und einem PKW ein und wir fuhren zurück in Richtung Innenstadt.

»Scheiße. Da hat jemand am Lachsbach eine Leiche gefunden. Wahrscheinlich war es ein Unfall, aber ich muss zumindest mal kurz hin.«

Er überholte den haltenden Bus und stellte den Wagen auf dem kleinen Parkplatz direkt an der Haltestelle Lachsbach ab. Wir stiegen aus und gingen auf den Waldrand zu. Ein älterer Mann kam uns entgegen. Seine Kleidung, viel zu warm für einen herrlichen, fast zu heißen Tag Anfang Juni, wies auf ei­nen Jäger hin.

»Sind Sie die Polizei?«

Sein brauner Hund kläffte ohrenbetäubend und sprang an mir hoch. Ich nahm dem Mann die Hundeleine ab und führte den Kläffer ein paar Meter abseits ins Gebüsch während er mit Robo den kleinen Waldweg hinunter ging. Der Hund hatte schon die Hälfte aller erreichbaren Büsche gewässert, als ein Streifenwagen in den Platz einbog.

Der Fahrer, ein kleiner Dicker mit roten Backen, offener Hemdkragen und ohne Jacke, stieg aus, während sein Kollege sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte. Er sah mich fragend an. Ich zeigte in Richtung Wald: »Die Kripo ist schon da.«

Keine Minute später, der andere Polizist hatte seine Zigarette fertig gedreht und stieg ebenfalls aus, kamen auch Robo und der Jäger auf uns zu. Robo winkte die beiden Polizisten heran. »Morgen. Das war kein Unfall, ich hab die Jungs von der Spu­rensicherung schon aus dem Bett holen lassen. Sperrt ihr bei­den doch mal bitte den Weg hier ab, oder besser den ganzen Platz.«

Während sie wichtigtuerisch ihres Amtes walteten nahm Robo den verstörten Jäger mit zu seinem Auto, notierte seine Personalien und ich gab ihm seinen Fiffi zurück.

Dann wurde es unübersichtlich. Zwei Privatwagen, drei weitere Streifenwagen und ein Notarztwagen der Feuerwehr kamen an, Leute gingen Richtung Waldweg, wurden zurückgepfiffen, alle zeigten sich gegenseitig ihre Dienstausweise, kurzum, es entwickelte sich ein herrliches Chaos.

Ich war kurz davor, mir Robos Auto zu schnappen und alleine nach Wassersleben zu fahren, schließlich hatten wir vorgehabt, die Ausfahrt der Schiffe zur Rumregatta von der Terrasse des ‚Kaffee Wassersleben‘ aus live zu verfolgen.

Als ich endlich den Schlüssel in den Händen hielt, war der Parkplatz so zugeparkt, dass an eine Ausfahrt gar nicht mehr zu denken war. Außerdem dröhnte in diesem Moment schon der Kanonendonner, der den Beginn der Regatta anzeigte, über den Wald hinweg.

»Was machen Sie denn hier?«

Ich drehte mich um und schaute der Dame tief in Augen. »Ich war mit Bohlke unterwegs zum Regattastart. Und jetzt warte ich, dass das Chaos sich lichtet, damit ich alleine hinfahren kann.«

Binnen einer Sekunde wechselte der Ausdruck ihrer blauen Augen von dienstlich auf freundlich. »Entschuldigung, wusste ich nicht. Ich dachte, Sie wären ein Gaffer.«

Ich lächelte sie an. Sie sah absolut nicht wie eine Polizistin aus, groß, schlank, blond und mit Gesichtszügen, die haarscharf an ‚schön‘ oder ‚hübsch‘ vorbeischrammten. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig, ein gutes Alter für eine Frau, vor allem für eine Kriminalpolizistin. »Gaffer brauchen Sie doch hier gar nicht, Spuren zertrampeln können Ihre Kollegen doch auch ganz gut.«

Sie schaute sich um. Der Parkplatz wirkte wie der Zeltplatz von Roskilde nach vier Tagen Festival. Zigarettenkippen, Kaugummipapiere und  eine zerfledderte Bildzeitung, Reifen und Fußspuren ohne Ende. Sie fasste sich an den Kopf.

»Sind Sie aus der Branche?«

Ich lachte. »Nee, ich bin Computerfuzzi.« Ich reichte ihr die Hand. »Helmut Zcipiorski, aber nette Leute dürfen Chip zu mir sagen.«

Sie strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und schlug ein. »Sabine Wohlfahrt, Kripo Flensburg. Und Robos Freunde dürfen mich Biene nennen.«

Ich blickte mich um, das Chaos wurde immer schlimmer. »Kannst du mir irgendwie helfen hier raus zu kommen?«

»Ich glaub, das regelt sich jetzt sowieso«, lachte sie. Zwei VW-Busse hielten auf der Busspur vor dem Parkplatz. Aus dem ersten stieg ein Riesenkerl, der binnen Sekunden blutrot anlief. »Na, Kollegen, habt ihr schon alles an Spuren plattgemacht, oder können wir noch behilflich sein?«

Obwohl er gebrüllt hatte, dass es bis an den Strand zu hören gewesen sein musste, reagierte niemand. Ich fragte mich gerade, wie sehr ein menschlicher Hals wohl anschwellen kann, bevor er platzt, als er erneut losbrüllte. »Wenn in einer Minute noch ein Auto auf diesem Platz steht, werde ich dem Fahrer höchstpersönlich den Arsch aufreißen, ist das klar?«

Ich hatte Robos Auto, das in der vordersten Reihe stand, nach 50 Sekunden draußen, sicher ist sicher. Der erste Bus der Spurensicherer wurde am Eingang zum Wald abgestellt, der zweite blockierte vorsichtshalber die Einfahrt in den Platz Die Beamten schwärmten aus.

Um zwölf sah ich Robo zum ersten Mal, seit wir hier angekommen waren. Ich hatte es mir neben der Bushaltestelle im Gras bequem gemacht, genoss die Sonne, ohne mich von den jetzt zahlreich vertretenen Gaffern stören zu lassen. Er setzte sich neben mich und fingerte eine Zigarette aus der Packung. »Scheiße, tut mir echt leid, aber das wird noch dauern, so wie ich das sehe.«

»Was ist denn passiert?« Ich nahm mir auch eine Zigarette.

Er lehnte sich zurück, nahm einen tiefen Zug, schüttelte sich. »Nacktes Mädel, na ja nicht mehr ganz so jung, schätze Ende Zwanzig. Fürchterlich zugerichtet und unten im Bach abgelegt. War reiner Zufall dass der Hund sie gefunden hat. Man hat sie säuberlich hinter ein paar Büsche ins Wasser gelegt, nur der Kopf guckt raus. Die Jungs haben einen Weg von oben nach unten abgesucht und freigegeben, jetzt sind sie mit dem Arzt unten und holen sie raus. Ich werd auch gleich wieder runtergehen. Willst du mit?«

Ich überlegte. Die Leichen, die ich bisher gesehen hatte, waren nicht gerade ein netter Anblick gewesen, obwohl sie keine Mordopfer gewesen waren. Ich wollte gerade ablehnen, als Biene Wohlfahrt sich neben uns ins Gras plumpsen ließ.

»Die Leiche ist draußen, der Arzt sieht sie sich gerade an. Willi meint, in zehn Minuten wären sie soweit, dann will ich mal runter.«

Ich drehte mich zu ihr um. »Wir kommen mit.«

»Oho.« sie sah mich lachend an. »Will der Computerfuzzi mal ein bisschen Nervenkitzel spüren?«

Robo blickte verwirrt zwischen uns hin und her. »Kennt ihr euch?«

Biene steckte sich auch eine Zigarette an. »Wir haben uns bereits vorgestellt.«

Einer der Beamten rief nach Robo und wir machten uns zu dritt auf den Weg in den Wald. Die Trennlinie zwischen der Sonne auf dem Parkplatz und dem Schatten des Waldes war messerscharf und verursachte einen Temperaturunterschied von gefühlten 15 Grad. Meine Augen brauchten ein paar Sekunden, dann hatten sie sich an das Halbdunkel gewöhnt. Wenige Meter vom Anfang des Weges entfernt hatten die Spurensicherer rot- weiß gestreifte Bänder gespannt, die an dem steilen Hang hinab nach unten zum Wasser führten. Wir rutschten und kletterten den Weg hinunter ins Tal, durch das der Lachsbach sich seit Urzeiten seinen Weg gebahnt und mit den Jahren ein tiefes, wenn auch schmales Tal in die Landschaft gegraben hat.

Unten angekommen warteten schon der Arzt und der Riese von der Spurensicherung auf uns. »Und?« Robo schaute den Arzt an.

»Dass sie tot ist, wissen Sie selber, alles andere kann ich bisher auch nur vermuten.« Der Arzt wandte sich ab.

»Hey Doc«, Robo stiefelte zu ihm hinüber, »ich hab sie nur im Wasser gesehen. Was ist denn mit ihr?«

Der Arzt setzte sich auf einen Stein am Bachrand und zog eine Pfeife aus der Hemdtasche, die er zu stopfen begann. »Na gut. Weiblich, ca. 30 Jahre alt, gepflegter und anscheinend recht gesunder Allgemeinzustand. Würgemale am Hals, frische und ältere Hämatome an den Brüsten, am Gesäß und an Armen und Beinen. Mehrere kleine Tätowierungen über den Körper verteilt.« Er blickte auf und kramte sein Feuerzeug aus der Tasche. »Das war das Angenehmere.«

»Und das nicht so Angenehme?« Biene setzte sich neben ihn und sah ihn fragend an.

»Sie hatte diverse Piercings; In einer Brustwarze, einer Brust, dem Schambein und in den Schamlippen. Alle gewaltsam entfernt, richtiggehend rausgerissen.« Weiße Wölkchen verließen die Pfeife des Arztes.

»Aber fragen Sie mich bloß nicht, ob diese Sauereien vor oder nach Eintritt des Todes passiert sind. Fragen Sie mich besser auch nicht, woran sie eigentlich gestorben ist, ich kann’s wirklich noch nicht sagen.«

Er stand auf und reckte sich. »Ich würde sie gern nach Kiel bringen, da haben wir in der Pathologie mehr Möglichkeiten, ist das in Ordnung?« Robo nickte, »Kein Problem, Hauptsache es dauert nicht so lange.«

»Eins ist mir noch aufgefallen.« Der Arzt erhob sich und ging zu der abgedeckten Leiche hinüber. »Sie war extrem sorgfältig geschminkt, und ich würde beinahe wetten, sie war schon tot, als das gemacht wurde.«

Er zog die Plane, die über der Leiche lag, ein wenig nach unten, Ich sah blonde Haare, sorgfältig geschminkte, geschlossene Augen, eine schmale, spitz zulaufende Nase, knallrot angemalte Lippen. Die Plane rutschte über die Schultern der Toten und genau lag nun flatternd auf dem Wasser des Baches. Die Leiche war offenbar komplett in den Bachlauf gelegt und durch die leichte Strömung gegen einen im Wasser liegenden Ast geschwemmt worden, so dass der Kopf hochgedrückt worden war.«

Dann sah ich in das Gesicht, schloss die Augen, blickte noch mal hin, vor meinen Augen verschwamm das Bild. Ich schüttelte den Kopf, das konnte nicht wahr sein, das war nicht möglich. Ich sah noch einmal hin, versuchte den Blick zu fixieren und dann spürte ich den Reflex in Magen und Speiseröhre. Ich drehte mich um, taumelte ein paar Meter zum Ufer und übergab mich in den Bach.

Grinsend standen Biene und Robo hinter mir, als ich mich umdrehte und mir die Tränen aus den Augen wischte. »Na Computerfuzzi, zu viel Nervenkitzel?« Biene grinste noch immer.

Robo merkte schneller, was mit mir los war. »Chip, was ist? Kennst du sie etwa?«

Ich würgte noch einmal und nickte.

Der Doc hatte die Plane zurückgezogen und drückte mich auf den Stein, auf dem er gesessen hatte. Er fühlte mir den Puls, sah mir in die Augen. »Schon okay, wird gleich wieder. Tief atmen.« Ich tat, was er gesagt hatte, der Schwindel und die Übelkeit verflogen.

Robo nahm mich beim Arm. »Wer ist denn das? Gute Bekannte?«

Ich nickte. »Lilly, nein Lydia, aber alle nennen sie Lilly.«

Vielleicht hatte ich mich vertan. »Kann ich sie noch mal sehen?«

Robo schaute den Doc an. Der runzelte die Stirn. »Im Moment besser nicht.« Ich rief mir Lilly in Erinnerung. »Sie hat einen Schmetterling tätowiert, unterhalb der linken Brust«.

Der Doc nickte. »Sonst noch was?«

Ich holte tief Luft. »Einen Löwenkopf auf dem Schamhügel.«

Der Riese ließ sich neben uns auf dem Boden nieder. »Na ja, zumindest die Identifizierung haben wir schon mal. Fängt doch ganz ordentlich an, oder?«

Ich kletterte mit Biene an der Hand den Hang wieder hinauf, oben gab mir der Arzt ein paar Pillen, und als die Bestatter die silberne Wanne an mir vorbei ins Auto schoben, war die Welt schon wieder ein kleines bisschen rosa.